22 Jun DAS PERFEKTE PRESTIGEPROJEKT
Mit einem Jahr Verspätung startet nun endlich die Fußball-EM 2020 und Budapests neues Fußballstadion wird mit insgesamt vier Spielen endlich seinen großen internationalen Auftritt haben. Hier schauen wir nicht nur architektur- und bauhistorisch, sondern auch etwas persönlich auf die Puskás Aréna.
Es ist schon ein seltsames Verhältnis zwischen den Völkern und ihren großen Stadien. Manchmal ist es auch überraschend, welch großes Interesse selbst Bau- und Architekturinteressierte den Riesenarenen entgegenbringen. Fragwürdig wird es allerdings, wenn sich Mächtige dieses faszinierende Liebesverhältnis zu Nutze machen.
Wahrscheinlich kennen weltweit mehr Leute die Münchener Allianz Arena des Schweizer Büros Herzog & de Meuron, als die Fünf Höfe in der gleichen Stadt vom selben Stararchitektenteam. Als ich noch vor der Fußball-WM 2006 auf Architektur-Exkursion in Berlin war, wollten zwei Studentinnen den Weg zum Olympiastadion wissen; ich hatte es schlichtweg im Programm vergessen. Mit einem Architekturfreund war ich in den 1990-ern in Brüssel, wo er – zugegebenermaßen großer Fußballfan – unbedingt zum damaligen Heysel-Stadion wollte. Und als wir mit 30 Studenten vor zwei Jahren sowohl den einhundert Jahre alten, unterirdischen, vollkommen mit italienischen Klinkern verkleideten Wasserspeicher in Kőbánya besichtigten, als auch das im Bau befindliche neue Fußballstadion an der Stefánia út, lautete die einstimmige Antwort auf meine Nachfrage, welche Besichtigung ihnen denn wohl besser gefallen hätte: die Puskás Aréna.
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Volksstadion der Goldenen Elf
Das Nationalstadion der Ungarn fand erst nach dem II. Weltkrieg seinen Standort. Im Hinterland des Keleti pályaudvar (Ostbahnhof), auf dem eher morastigen Baugrund der Istvánmező (Stephansfeld), lag zuvor eine Pferderennbahn, auf deren Grund zehntausende mehr oder weniger Freiwillige ihr Volksstadion erbauten, entworfen von Károly Dávid, dessen Flughafengebäude bereits 1950 seinen Betrieb aufgenommen hatte. 1953 wurde das Volksstadion für 100.000 Zuschauer eingeweiht, gleichzeitig Heimstadion der Goldenen Nationalelf, die 1954 in Bern fast Weltmeister wurde. Man könnte sagen: das Prestigeprojekt der kommunistischen Führung um den Stalinisten Mátyás Rákosi hat sich voll gelohnt. Zu dumm, dass Stalins Tod noch vor der Stadioneinweihung und vor allem der Abzug der sowjetischen und anderen Besatzungssoldaten aus Österreich 1955 dem Ungarischen Volksaufstand von 1956 den außenpolitischen Nährboden bereitete und den Stadionerbauer Rákosi zur Flucht in die Sowjetunion zwang.
Der Popularität des Volksstadions tat dies alles nichts an. Stalindenkmäler wurden zwar vom Sockel gestoßen, aber der Gulasch-Kommunismus lief weiter. Die Arena wurde Ende der 1980-er Jahre sogar zu einem symbolträchtigen Ort der Öffnung des Landes: 1986 traten hier Queen zum ersten Mal überhaupt in einem Ostblockland auf, ein Jahr später Genesis. Und 1988, Ungarn hieß noch Volksrepublik, fand hier das Human Rights Concert mit Bruce Springsteen, Sting und vielen anderen Stars statt. Es ist schon ein besonderes Verhältnis zwischen den Völkern und ihren großen Stadien.
EM-Arena mit historischen Zitaten
Als klar war, dass auch Budapest Austragungsort der Fußball-EM 2020 sein wird, entschied man, dass Volksstadion, das mittlerweile Ferenc-Puskás-Stadion hieß, durch eine hochmoderne reine Fußballarena zu ersetzen. Den Architekturwettbewerb gewann György Skardelli vom Büro KÖZTI, der bereits die benachbarte, 12.500 Personen fassende Sport- und Veranstaltungshalle László-Papp-Aréna entwarf. Beide Arenen bilden eine Achse, in deren freiem Zwischenraum sich ein Sportskulpturenpark befindet, nunmehr letztes Originalstück der frühsozialistischen Moderne an diesem Ort. Aber auch die Pylone des neuen Stadions für über 67.000 Fans erinnern an die 1950-er: sie sind nicht nur Zugpfeiler zur Lastabtragung der über die Zuschauerränge ragenden Dachkonsolen, sondern auch Treppenhäuser. Ihre geometrische Betondekoration gab schon dem Bau von Károly Dávid sein unverwechselbares und wiedererkennbares Aussehen. Zwischen den Statik- und Treppentürmen spannt sich nun ein metallenes Gewebe um das Stadion, was perfekt dem zurückhaltenden Farbenspiel der Betonpylone entspricht, tags die Lichtverhältnisse reflektiert und abends illuminiert werden kann. Das Innere ähnelt dem berühmten Münchener Vorbild von Herzog & de Meuron: die Ränge sind horizontal dreigeteilt und werden nach oben immer steiler, damit die Fans so nah wie möglich am Spielrasen sind.
Im November 2019 wurde die 560 Millionen Euro Steuergelder kostende Arena eingeweiht. Im März 2020 brach die COVID-19-Pandemie über Europa herein, in deren Folge Olympia und EM um ein Jahr verschoben werden mussten. So musste die neue Arena die ersten anderthalb Jahre nach ihrer Einweihung fast komplett leer bleiben, wird nun aber gleich viermal für Fans aus ganz Europa ihre Tore öffnen.
Stadion hui, Bahnhof pfui
Hat sich das Prestigeprojekt der Orbán-Regierung, die aus ihrem Sportwahn längst kein Geheimnis mehr macht, gelohnt? Es ist eigentlich wie immer: natürlich lieben die Menschen ihr neues Nationalsymbol, in dem die Welt zu Gast sein darf. Es sind eigentlich immer nur ein paar Meckerköpfe, die darauf verweisen, dass das Budapester Großkrankenhaus zum gleichen Preis noch immer in der Planungsphase steckt. Oder dass der nahe Ostbahnhof mit täglich mehr Gästen, als das Stadion Besucher fassen kann, in einem erbärmlichen Zustand ist.
Die britische Band Depeche Mode übrigens war dreimal im Vorgängerbau zu Gast und trug mit dazu bei, dass das Volksstadion mehr als ein Symbol nur für den Fußball wurde. Warten wir es also ab, wie sich Ungarn, Portugal, Frankreich und die Achtelfinalisten in den nächsten Wochen auf dem grünen Rasen schlagen werden, wer noch alles in den nächsten Jahrzehnten die Puskás Aréna mit Leben und Erinnerungen füllen wird, und wie sich dieses seltsame Liebesverhältnis weiterentwickeln wird.
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